MEINUNG
In der kalten Jahreszeit ist das Einkuscheln in Schichten von Kleidung mit kuscheligen Texturen das Allerschönste. Da der Sonnenuntergang mit unserem Kaffee am späten Nachmittag zusammenfällt, stellt das Ankleiden für die Arbeit eine besondere Herausforderung dar: Strumpfhosen, Röcke und Absätze wirken plötzlich weniger anziehend als das Gefühl, den ganzen Tag eingekuschelt unter der Bettdecke zu bleiben – der englische Begriff Cozycore beschreibt ein Lebensgefühl, bei dem das Einkuscheln oberste Priorität hat. Aber bedeutet das, dass wir einen Trend mitmachen oder dass wir uns für einen längst überfälligen Look erwärmen?
Seit einem Jahrzehnt ist enganliegende Kleidung die einzig richtige Antwort auf jede Stilfrage. Die Best-Of-Bilder vom roten Teppich zeigen eine Palette an Body-Con-Bandagen-Kleidern und kurzen BH- und Radlerhosen-Kombis, die die Lenden von Kim Kardashian, Ariana Grande, Taylor Swift, Katy Perry und Lady Gaga zieren – wenn letztere einmal nicht mit Fleisch bekleidet ist. Die Frauen haben mit ihrer Weiblichkeit nicht gegeizt, Kurven wurden betont, eine zweite Haut bot gerade genug Platz zwischen Epidermis und Elastan, um ein Paar Spanx dazwischen zu quetschen. Adios Oversize, willkommen Sanduhr-Silhouette.
Aber die Sängerin Billy Eilish, laut Google die meistgesuchte Celebrity-Style-Ikone des Jahres 2019, ist kein Mitglied der Spandex-Schwesternschaft. In ihrem weiten, übergroßen T-Shirt und den dazu passenden Shorts bietet sie eine auffällige Modealternative und witzelte kürzlich: „Wenn ich schwanger wäre, würde es niemand merken.“
Billy Eilishs kuscheliger Look ist trendy und extrem lässig
Und das Ergebnis ist mehr Swagger als Schwitzen, mehr gewollt denn nachlässig. Mit einer Katzenaugen-Sonnenbrille, einer Gucci Kuriertasche, raren High-End Sneakers, einer kristallbesetzten Gesichtsmaske, einem Anglerhut und passenden Acrylnägeln ist ihr Look lebendig, frisch und vor allem ikonoklastisch. Sie straft diejenigen lügen, die sagen, dass sie viel cooler wäre, wenn sie sich nicht so anziehen würde, wie sie es tut. Dennoch gewann sie 2019 sechs Grammys und zwei AMAs, trat für Chanel auf und wurde von der Luxusmodeindustrie umworben.
Eilish, die heute achtzehn Jahre alt ist, führt mit ihren 45,1 Millionen Instagram-Anhängern eine neue Riege von emotional intelligenten, geschlechtsambivalenten Stylern an, die Authentizität ausstrahlen und sich einer Gesellschaft widersetzen, die Frauen und insbesondere Teenager hyper-sexualisiert. Ihre feministische Stimme, die in schrilles Neongrün gehüllt und mit Graffiti überzogen, oder in einen riesigen aufgeblasenen Parka gepackt ist, mit doppelten Cs, Fs oder Gs übersät, hebt sich von der Masse ab. Sie repräsentiert das weibliche Empowerment der Gen Z, während sie sich von der Oversize geschnittenen, lässigen Garderobe inspirieren lässt, die männliche Künstler schon immer genossen haben und die früher als unschmeichelhaft für Frauen galt. In einer Kampagne für Calvin Klein beschreibt sie ihre Absicht, nicht nur für weibliche Formen geschätzt zu werden: „Deshalb trage ich Schlabbersachen. Niemand kann eine Meinung [zu meinem Körper] haben, weil er nicht gesehen hat, was darunter ist. Niemand kann sagen ’sie ist skinny fat, ’sie ist nicht skinny-fat’… Niemand kann sowas sagen, weil niemand es weiß.“
Mit dem Aufkommen dieses neuen Stils geht auch ein aktuelles Öko-Bewusstsein für die Verbrechen der Mode gegen das Klima einher, das unsere Skinny Jeans und Yoga-Leggins noch mehr abstraft. Steht die Marktdominanz des Spandex – ein Anagramm für ‘expands’, expandieren also – kurz davor sich zu implodieren? Spandex ist nicht biologisch abbaubar und der Prozess der Spandex-Herstellung erfordert Petrochemikalien, verbraucht viel Energie und setzt Mikroplastik im Wasser frei. Im Jahr 2010 enthielten laut einem NPR-Bericht 80 Prozent der in den USA verkauften Bekleidung Spandex, aber da wir in das Jahr 2020 eintreten, haben wir uns weltweit zu der gleichen guten Vorsätze verpflichtet. 250 Marken sind dem Modepakt beigetreten, der Koalition, die während des G7-Gipfels 2019 ins Leben gerufen wurde, um einen gemeinsamen Kern dreier wichtiger Umweltziele in Angriff zu nehmen: der globalen Erwärmung Einhalt zu gebieten, die Artenvielfalt wiederherzustellen und die Ozeane zu schützen. Wenn es also nicht mehr eng ist, sondern gemütlich, sieht die Zukunft ausgesprochen kuschelig aus.
Dies ist eine Übersetzung eines englischen Beitrags von Jackie Mallon. Jackie Mallon lehrt Mode in New York und ist die Autorin des Buches ‚Silk for the Feed Dogs’, ein Roman, der in der internationalen Modeindustrie spielt. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ
Headerbild: Wikimedia Commons “Pug Snugged in a Blanket” by Matthew Henry matthewhenry – http://unsplash.com/photos/U5rMrSI7Pn4Image at the Wayback Machine (archived on 25 April 2017) Gallery at the Wayback Machine (archived on 12 March 2016)