REVIEWWer hofft, endlich das Gesicht des schwer fassbaren belgischen Designers in der neuen Dokumentation Martin Margiela: In His Own Words zu sehen, die Anfang November beim Doc NYC Filmfestival ihre Weltpremiere hatte, wird enttäuscht werden. Die Kamera konzentriert sich nur auf die Hände des Designers und archiviert und filmt die einflussreiche Arbeit dieser Hände. Wir müssen uns damit zufrieden geben, dass Margiela uns durch die Jahre 1989 bis 2009 seines gleichnamigen Labels führt, bevor er sich endgültig von der Mode verabschiedet. Obwohl, wie Regisseur Reiner Holzemer dem Publikum mitteilt, sogar seine Stimme leicht verändert wurde, um Margielas intensiven Wunsch nach Schutz der Anonymität zu bewahren.
Der geduldige deutsche Filmemacher, der auch 2017 die Modedokumentation Driesüber den belgischen Designer-Kollegen Dries Van Noten kreiert hat, beschreibt, wie er Margiela viele Monate lang umwerben musste, und selbst als der Designer zugestimmt hatte, war ihm klar, dass er sich jederzeit wie bei anderen Filmprojekten wieder umentscheiden könnte. Zuerst wollte Margiela, dass ein Ersatzschauspieler ihn spielt, dann dachte er über die Idee nach, die Stimme einer Frau zu verwenden, dann sagte er, er würde vorbereitete Worte lesen. Als er schließlich überredet wurde zu sprechen, sagte Holzemer, hatte der Designer so viel zu sagen, dass er zehn Dokumentationen hätte machen können.
Martin Margielas frühe Inspiration
Margielas Mutter bewahrte alle frühen Zeichnungen, Skizzen und Barbie-Puppen ihres Sohnes auf, für die er Outfits anfertigte, darunter eine Kopie eines Yves Saint Laurent Blazers, den er später in Originalgröße für seine von der Puppe inspirierte Kollektion von 1994 entwerfen würde. Sie verkaufte Perücken, ihr Mann war Friseur, und ihr Sohn erinnert sich daran, dass er Stunden im Friseurladen verbracht hat, die Haare auf den Boden fielen und Kunden durch sie hindurchgingen. Die Berufe seiner Eltern und seine Großmutter, die Schneiderin war, entfachten seine Leidenschaft als Modedesigner bereits im Alter von sechs Jahren und inspirierten spätere Design-Entscheidungen, in denen er die Gesichter der Models mit Perücken und seine Mäntel mit Echthaar bedeckte. Weitere legendäre Kollektionen, die in der Dokumentation aufgegriffen werden, sind die erste Laufsteg-Show in einem Park mit Kindern, die neben den Models auf und ab laufen, in einem äußeren Arrondissement von Paris, das die alteingesessene Modeszene unruhig machte, die Trompe-l’oeil-Fotodruckkleider von 1996 und die Stockman-Kollektion von 1997. Der Designer beschreibt die Entstehung des Tabi-Stiefels und erinnert sich an ein Studium an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen, als er und seine Klassenkameraden darüber sinnierten, wie man sich in die Modenschauen von Jean Paul Gautier einschleichen könnte.
Martin Margiela Dokumentarfilm über den Mythos und Einfluss des Designers
Die Entstehung des Dokumentarfilms fiel mit der Ausstellung ‘Margiela / Galliera 1989-2009’ zusammen, die 2018 im Pariser Museum Palais Galliera gezeigt wurde. Dieses Selbstporträt unterscheidet sich deutlich von We Margiela, dem Dokumentarfilm über das Haus von 2017, in der Interviews mit der verstorbenen Jenny Meirens und anderen wichtigen Mitgliedern seines Teams vorkamen.
Margiela spricht über die physische Belastung, die die Rolle des Modedesigners mit sich bringt, den Stress, immer wieder etwas Neues zu entwickeln, den Druck, den das Aufkommen des Internets auf den Modezyklus ausübt, und die späteren Forderungen des neuen Stakeholders Diesel Renzo Russo, die Kollektion „sexy“ zu machen. In der Schlussszene der Dokumentation, als er gefragt wurde, ob er alles gesagt habe, was er in der Mode sagen wollte, legt er seine Brille auf den Schreibtisch und antwortet: „Nein“ – dann folgt der Abspann. Trotz dieser hoffnungsvollen Note sagt der Regisseur dem Publikum, dass Margiela nicht plant, wieder in die Mode einzusteigen.
Jean-Paul Gaultier, der Margiela nach dem Abschluss als Assistent einstellte, sagte ihm, er sei „zu ernst für diese Welt“. Margiela stimmt zu: „Ich bin nicht dafür gemacht, mit dem System fertig zu werden, so wie er es tut. Er kann gut damit umgehen. Im positiven Sinne des Wortes ist er ein echter Entertainer.“ Aber Modegrößen wie Carine Roitfeld und Cathy Horyn sind bemüht, auf seinen Einfluss auf die heutige Modewelt hinzuweisen. Horyn sitzt bei der New Yorker Premiere sogar im Publikum.
Man kann nicht anders, als zu vermuten, dass Margiela selbst – heute Maler und Bildhauer – vielleicht auch unter den Zuschauern gesessen hat.
Dies ist eine Übersetzung eines englischen Beitrags von Jackie Mallon. Jackie Mallon lehrt Mode in New York und ist die Autorin des Buches ‚Silk for the Feed Dogs’, ein Roman, der in der internationalen Modeindustrie spielt. Übersetzung und Bearbeitung: Barbara Russ
Images: FashionUnited