KOMMENTAR Zum siebten Mal jährt
sich der traurige Jahrestag des Einsturzes des Rana-Plaza-Gebäudes in Savar
bei Dhaka, Bangladesch, einem Gebäude, das verschiedene Bekleidungsfabriken
beherbergte. Das ständige Rattern ihrer Nähmaschinen in den beiden illegal
errichteten oberen Stockwerken brachten das Gebäude am 24. April 2013 zum
Einsturz, wobei 1.132 Arbeiterinnen und Arbeiter in seinen Trümmern
begraben und Tausende weitere verletzt wurden. Die wirkliche Tragödie
besteht darin, wie leicht dieser Verlust von Menschenleben hätte vermieden
werden können, wenn den Arbeitern die Evakuierung gestattet worden wäre –
Risse im Gebäude waren mehr als einen Tag zuvor deutlich an der Fassade des
Gebäudes zu sehen.
Es sind genau diese Risse in einem System der Gier, die jeder von uns
hätte sehen können. Jeder, der jemals ein Kleidungsstück weit unter
Marktwert gekauft hat – was angesichts der lächerlich niedrigen
Bekleidungspreise, die im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich gefallen sind,
die meisten von uns einschließt. Jeder von uns, der jemals bei der
Herstellung eines solchen Kleidungsstücks mitgewirkt hat, sei es bei der
Bestellung, beim Kauf, beim Design, bei der Bereitstellung der Materialien
oder beim Marketing. Jeder, der die wirklichen Kosten billiger Kleidung
kannte und nichts dagegen unternommen hat.
Denn wenn wir etwas bemerkt, gesagt oder getan hätten, dann hätten die
Fabrikbesitzer von Rana Plaza, die unter dem Druck niedriger Preise und
knapper Margen standen, ihre Arbeiterinnen und Arbeiter nicht wieder in ein
Gebäude getrieben, das eindeutig nicht sicher war. Warum haben sich die
Arbeiterinnen und Arbeiter einfach nicht geweigert, wieder an die Arbeit zu
gehen? Warum haben sie ihre Gewerkschaftsvertreter nicht einbezogen? Weil
es keine gab. Und weil, wenn man von einem solchen Hungerlohn lebt, kaum
seine Familien ernähren und kaum über die Runden kommen kann, es manchmal
mehr Sinn macht, sein eigenes Leben zu riskieren als seinen mickrigen
Lohn.
Hat Rana Plaza irgend etwas geändert?
Wie sieht Rana Plaza, der Ort der Katastrophe, jetzt aus? Was ist mit
ihm geschehen? Wenn wir an ihm vorbeigehen würden, wüssten wir nicht, dass
er da ist, denn es gibt keine Gedenktafel, die an das tragische Ereignis
erinnert. Es ist einfach ein leerer Bauplatz. Diejenigen, die über die
Mauer klettern und sich umschauen wollen, können hier immer noch Etiketten
jener Marken finden, die hier ihre Kleidungsstücke herstellen ließen –
Benetton, Bonmarché, Prada, Gucci, Versace, Moncler, The Children’s Place,
El Corte Inglés, Joe Fresh, Mango, Matalan, Primark und Walmart.
Jetzt erinnern nur noch vertrocknete Blumensträuße, die die Familien der
Opfer zum Gedenken hinterlassen haben, an die 1.132 Todesopfer. Und obwohl
es schade ist, ist es auch verständlich, warum Bangladesch sich offiziell
so wenig um das Gedenken an dieses Ereignis kümmert, denn das Geschäft muss
weitergehen. Für ein Land, dessen Exporte zu 80 Prozent von Bekleidung und
Schuhen abhängen, ist es von entscheidender Bedeutung, ein Bild von einem
sicheren Beschaffungsort aufzubauen. Und Bekleidungsfabriken, die vor
Arbeit nicht still stehen, sind schließlich auch gut für ihre Arbeiterinnen
und Arbeiter.
Bekommen Bekleidungsarbeiterinnen und -arbeiter die Unterstützung, die
sie in der Corona-Krise brauchen?
Sieben Jahre später geht es also wieder ums Geschäft und ums Geld. Das
Land und die Welt befinden sich in einer Krise, die noch schlimmer ist als
Rana Plaza. Die Nachfrage nach Kleidung ist stark zurückgegangen, da
Menschen auf der ganzen Welt zu Hause bleiben und neu überdenken, wofür sie
ihr hart verdientes Geld ausgeben wollen. Die Folge ist, dass Marken und
Einzelhändler auf alten Beständen sitzen bleiben, Bestellungen stornieren
oder verschieben und sich weigern, für bereits bestellte oder fast
abgeschlossene Aufträge und Materialien zu zahlen. Das bedeutet, dass
Fabriken die Produktion drosseln oder ihre Türen vorübergehend schließen
müssen und dabei Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen; die meisten von
ihnen ohne Abfindungen oder andere Überbrückungsmaßnahmen. Ohne finanzielle
Mittel und ein soziales Netz, auf das sie zurückgreifen können, sind sie
plötzlich schlechter dran als nach Rana Plaza und haben nicht nur keine
Arbeit mehr, sondern bald auch kein Zuhause und kein Essen mehr, wenn das
Geld fehlt.
Dies ist umso tragischer, da vor sieben Jahren, nachdem Rana Plaza
„passierte“, versprochen wurde, dass dies nie wieder geschehen würde, und
zwar von einer Branche, die den Bangladesh Accord, die Allianz und andere Maßnahmen ins Leben rief, um
Brandschutz, Gebäude- und Arbeitersicherheit in Bangladesch zu verbessern.
Was sie nicht voraussah war, wie Auftraggeber dazu gebracht werden können,
sich nicht ihrer Verpflichtungen zu entziehen und Verträge einzuhalten.
Tausende von Bekleidungsarbeiterinnen und -arbeitern gingen jüngst trotz
Lockdown-Auflagen in Bangladesch auf die Straße und protestierten, da
Covid-19 für sie weniger lebensbedrohend ist als die bevorstehende Armut.
Und wieder einmal steht die eigene Gesundheit hinten an, wenn es darum
geht, einen Lohn einzustreichen, der nicht einmal für das Notwendigste
reicht.
“Ich sehe, wie sich die westliche Welt mit Lebensmitteln eindeckt,
während die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Bekleidungsindustrie hungern.
Wo sind die Marken, die behauptet haben, nachhaltig zu sein, jetzt? Ich
werde nie vergessen, wie sie uns während der Corona-Krise behandelt haben.
Es ist wieder wie nach Rana Plaza“, kommentiert die Gewerkschaftsaktivistin
Kalpona Akter laut der Dhaka Tribune. Sie ist auch die Gründerin des
Bangladesch-Zentrums für Arbeitersolidarität (BCWS), eine der drei
Gewerkschaften, die derzeit den Stellenabbau dokumentieren. „Diese Arbeiter
werden in den nächsten zwei bis drei Monaten nirgendwo anders Arbeit
finden. Die Fabriken müssen sie zurücknehmen, und die Regierung muss dies
sicherstellen“, fügt sie laut Reuters hinzu.
Aus diesem Grund hat die in den USA ansässige Nichtregierungsorgansation
Remake zusammen mit Mostafiz Uddin, dem Eigentümer des in Bangladesch
ansässigen Denim-Herstellers und -Exporteurs Denim Expert Ltd. und
Gewerkschaftsaktivistin Akter die #PayUp-Initiative ins Leben gerufen, die
internationale Marken und Einzelhändler dazu auffordert, ihren
Verpflichtungen nachzukommen und jetzt in der Produktion befindliche
Aufträge zu bezahlen.
“Im Gegensatz zu Rana Plaza haben wir nicht zwei Jahre Zeit, um auf
einen Entschädigungsfonds zu warten. Primark hat uns während Rana Plaza und
jetzt wieder während dieser Pandemie den Rücken gekehrt. Ich habe es mit
Frauen zu tun, viele von ihnen sind alleinerziehende Mütter, die nicht
bezahlt wurden und hungern müssen. Wenn wir keine dringende Hilfe haben,
fürchte ich, dass einige Selbstmord begehen werden“, warnt Nazma Akter,
Gründerin und Geschäftsführerin der Awaj-Stiftung, laut Dhaka Tribune.
Vor sieben Jahren, als Rana Plaza einstürzte, hätte die Modebranche die
Zeichen der Zeit erkennen und über ihre Praktiken und Werte nachdenken
können. Das geschah zwar zweifellos, aber nicht auf globaler Ebene. Jetzt,
wo die Corona-Pandemie die Welt dazu zwingt, einen Schritt langsamer zu
gehen und sich neu zu orientieren, hat die Modebranche erneut die Chance,
sich zu verlangsamen – in langhaltende,
nachhaltige und hochwertige Kleidungsstücke zu investieren und Wegwerf-Mode ein für alle Mal den Rücken zu
kehren. In langjährige Geschäftsbeziehungen mit Lieferanten zu
investieren und wirklich zu wissen, wer unsere Kleidung herstellt. In allen
Transaktionen transparent und für die Zukunft gerüstet zu sein, damit Rana
Plaza sich nicht wiederholt.
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Photo: Zakir Hossain Chowdhury / ANADOLU AGENCY